Juni 2003

[expand title=“Leonard Bernstein – Ouvertüre zu Candide“]

Mit der Bezeichnung Musical tut man „Candide“ eigentlich Unrecht, denn ein wirkliches Musical ist es nicht, vielmehr eine opernhafte Humoreske. Es war der dritte große Erfolg am Broadway, welchen der Komponist und Dirigent Leonard Bernstein 1956 nach „On the Town“ und „Wonderful Town“ feiern konnte. Die Handlung geht auf eine Satire von Voltaire aus dem 18. Jahrhundert zurück, in der ein junger Mann namens Candide von seinem Hauslehrer Dr. Pangloss zu dem Glauben gebracht worden ist, dass „in dieser besten von allen möglichen Welten“, alles zum Besten bestellt sei. Auf ausgedehnten Reisen entdeckt er mit seiner Geliebten jedoch, dass die Welt in der Realität anders aussieht. Befreit von seinem Glauben an Ideale kehrt er in die Heimat zurück. Bernsteins fängt den leichtfüßigen, grimmigen Humor Voltaires mit spritzigem, höchst musikalischem Witz und großer Originalität ein. Häufige Wechsel des Metrums, plötzliche dynamische Unterschiede, aber auch gefühlvolle Melodien runden das Meisterwerk ab.

Philip Niggemann, Juni 2003

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[expand title=“Astor Piazzolla – Milonga del ángel, Oblivión, La muerte del ángel“]

Der Tango ist ein ursprünglich aus Argentinien stammender Tanz, der stets zu zweit ausgeführt wurde. Über die Bedeutung des Worts scheiden sich die Geister; als wahrscheinlich gilt die Annahme, daß es eine Ableitung des mittelalterlichen spanischen Worts tangerebzw. taner („ein Musikinstrument spielen“, „etwas mit den Fingern berühren“) darstellt. Der Tango entstand im Zeitraum von 1865 bis 1870 in den verarmten Gebieten von Rio de la Plata und Buenos Aires, wo vielfach europäische Immigranten lebten. Anfang des 20. Jahrhunderts gelangte der Tango als populäre spezifisch argentinische Gattung zu internationaler Anerkennung. Die drei Hauptformen des Tango sind der instrumental realisierte tango-milonga, der entweder gespielte oder gesungene tango-romanza und der stets gesungene tango-canción. Text und Musik transportieren im Tango eine pessimistische, ja fatalistische Haltung gegenüber dem Leben und der Liebe ; er ist eine mögliche Reaktion auf soziale Verhärtung und Perspektivlosigkeit im Argentinien der Jahrhundertwende.

Nachdem seine innovative Art, den traditionellen Tango Argentiniens zu interpretieren, in seinem Heimatland zunächst auf heftigen Widerstand gestoßen war, wurde Piazzolla noch während seiner Lebenszeit zum gerühmten Vertreter des sogenannten Nuevo Tangound übte auf europäische wie südamerikanische Musiker großen Einfluß aus. Schon als Kind lernte er ein Instrument, das eng zum Tango gehört, das bandoneon. (Heute abend wird das bandoneon als Soloinstrument in Oblivion zu hören sein.) Er spielte in Tangoorchestern und betätigte sich auch als Arrangeur dieser Musik; dennoch erhielt er unter anderem in New York eine klassische musikalische Ausbildung. Eine 1954 komponierte Symphonie verschaffte ihm die Möglichkeit, als Stipendat bei der berühmten Nadia Boulanger in Paris Komposition und Theorie zu studieren. Ihn, der sich verzweifelt bemühte, zu einem „klassischen“, europäischen Komponisten zu werden, ermutigte sie, dem südamerikanischen Musikstil und dem Tango treu zu bleiben. Piazzolla verband nun europäische Elemente mit der traditionellen Tango-Musik und verwendete auch zum Jazz gehörige Muster und Klänge.

Mit eigenen Ensembles (Octeto Buenos Aires, Quinteto Nuevo Tango) realisierte er seine Vorstellungen; die Quintett-, Sextett- oder Oktettformation war ihm dabei die liebste Besetzung.

Milonga del Angel

Der Tango „Milonga del Angel“ ist eigentlich für sechs Musiker – zwei Bandoneons, zwei Celli, Klavier und Gitarre – komponiert; mit dem schwermütig-lyrischen Thema auf dem dunklen Untergrund der Baßstimmen wechseln sich anfangs Streicher und Bläser ab; im Mittelteil kommen rhythmischere, akzentuierte (Tango-)Figuren ins Spiel, die sich schließlich mit dem langsamen Thema im Schlußteil verbinden. Das Fundament des Stücks ist das charakteristische habanera-Motiv in den Baßstimmen.

Oblivion

Oblivion – „Vergessen“ – das Bandoneon führt in diesem langsamen Tango seine melancholische Solopartie auf dem wogenden ‚Teppich‘ der Streicher aus; zuerst rein solistisch mit dem ersten Hauptthema, dann beantwortet von einem eigenen Thema der anschwellenden Begleitung, das dem verhaltenen, verträumten Beginn Tempo und Richtung verleiht. Das Stück endet aber mit der Wiederholung des Bandoneonsolos und einem abschließenden geheimnisvollen Tremoloakkord, der die Tiefe und Endgültigkeit des „Vergessens“ anzudeuten scheint.

La muerte del angel

(„Der Tod des Engels“) hat einen wiederum anderen Charakter. Die Violinen beginnen mit einem äußerst rhythmischen Fugenthema, das von den anderen Streichergruppen aufgegriffen wird, im Mittelteil wechselt die Stimmung zu einem schwelgerisch-melodischen Thema der Streicher und des Solopianos; von nun an lösen sich Klavier und Orchester ab. Die klanggewaltige und ‚aggressive‘ Seite des Tangos übernimmt im Schluß wieder die Führung, wobei die Anfangsfuge neben anderen Motiven wieder anklingt.

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[expand title=“José Pablo Moncayo – Huapango“]

José Pablo Moncayo war eine der herausragenden Musiker-Persönlichkeiten Mexikos.

Er wurde 1912 in Guadalajara geboren, studierte Klavier und Komposition am Konservatorium von Mexico City, arbeitete zunächst als Pianist und Schlagzeuger beim Mexico Symphony Orchestra, bevor er 1946 dessen künstlerischer Direktor wurde. Von 1949 bis 1952 war er Dirigent des National Symphony Orchestra. Auch als Komponist machte er sich einen Namen. Seine Oper „La mulata de Córdoba“ wurde 1948 in Mexico City uraufgeführt, für Orchester schrieb er zwei Sinfonien, eine Sinfonietta und 1941 sein international erfolgreichstes Werk, den „Huapango“. Moncayo starb 1958.

Ähnlich wie beim Tango steht der Begriff „Huapango“, der vermutlich aus der Aztekensprache Nahuatl stammt, nicht nur für einen Tanz, sondern für ein musikalisches Genre, in dem die prähispanische Musik der Indios eine Verbindung eingegangen ist mit den Fandangos und Seguidillas der spanischen Konquistadoren. Am Anfang standen Improvisationen dreier Musiker und eines Sängers (trovador), der seine stets achtsilbigen Verse aus dem Stegreif erfinden mußte. Im 19. Jahrhundert begann man, Musik und Text zu fixieren und die einzelnen Strophen (coplas) durch Zwischenspiele zu verbinden.

Auch der rein instrumentale Huapango Moncayos folgt diesem Formprinzip: Drei populäre Melodien werden zitiert, und zwar in der Abfolge A-B-C-B-A. Sie bilden das thematische Rückgrat des Stückes. Verbunden werden sie durch „unthematische“ Zwischenspiele, in denen figurative und perkussive Elemente in den Vordergrund treten, bisweilen auch nur ein einzelner Ton bzw. Akkord repetiert wird. Eine Verarbeitung („Durchführung“) findet nicht statt, die Themen werden stets notengetreu wiederholt, höchstens mit kleinen wie improvisiert wirkenden Varianten versehen. Der ständig präsente Sechsachteltakt ist der Hintergrund, vor den sich Melodien im Dreivierteltakt schieben, was zu äußerst reizvollen metrischen Überlagerungen führt.

Hier handelt es sich nicht um europäische Musik, gewürzt mit mexikanischen Folklore-Zutaten, sondern ein mexikanischer Komponist bedient sich des europäischen Instrumentariums. Mag den Zuhörer der Eindruck eines rauschhaften, „dionysischen“ Tanzfestes überwältigen: Unterschwellig erschrecken wir vor der Unbekümmertheit und Vitalität einer fremden Kultur.

Thomas-Michael Gribow, Juni 2003

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[expand title=“Heitor Villa-Lobos – El trenecito“]

Der südamerikanische Komponist Heitor Villa-Lobos, zu Beginn seiner Karriere von den zeitgenössischen Kritikern als enfant terribleund vehementer Vertreter des Anti-Establishments angegriffen, avancierte zur hervorstechendsten Figur der Musik Brasiliens im 20. Jahrhundert. Zwar stammte er aus einem Elternhaus, das sich bemühte, ihm eine solide musikalische Ausbildung zu vermitteln, doch noch während seiner Kindheit starb sein Vater, der begonnen hatte, ihn in die Grundbegriffe der Theorie und des Instrumentalspiels (Klarinette u. a.) einzuweisen. Seine Jugend war unruhig, die Wohnsitze wechselnd; zeitweilig verdiente er sich mit Cellospielen seinen Lebensunterhalt und kam in Kontakt mit den Straßenmusikern in den Städten Brasiliens. Bald begann er, sich für die einheimische musikalische Volkskultur zu interessieren und unternahm Reisen beispielsweise zum Amazonas, wo er in Berührung mit indianischen Gebräuchen und Instrumenten kam. Das Interesse an der ursprünglichen Musik seines Landes sollte für sein Werk bestimmend bleiben.

Die Bachianas Brasileiras (1930-1945), aus denen heute abend gespielt wird, bilden Villa-Lobos‘ Hauptwerk in den dreißiger Jahren. Wie aus dem Titel zu erkennen ist, werden im Sinne des derzeitig populären musikalischen Nationalismus Elemente brasilianischer Volksmusik mit Bachschen Strukturen – Polyphonie und Kontrapunkt – verknüpft. Die einzelnen Bachianas sind entsprechend aufgebaut wie Suiten und beinhalten jeweils drei oder vier Sätze. Villa-Lobos selbst äußert sich zu seinem Werk wie folgt:

„Dies ist eine besondere Art musikalischer Komposition, die auf einer intimen Kenntnis der großen Werke von J. S. Bach und auch auf der Beziehung des Komponisten zu der harmonischen, kontrapunktischen und melodischen Atmosphäre der Folklore im nordöstlichen Gebiet Brasiliens beruht. Der Komponist hält Bach für eine umfassende und reiche folkloristische Quelle, tief mit der Volksmusik eines jeden Landes verwurzelt.“

El Trenecito -„Der kleine Zug“ – ist der Schlußsatz der zweiten Bachiana Brasileira, die ursprünglich für eine Besetzung von 8 Celli und Sopran geschrieben wurde. Villa-Lobos schreibt in der Tradition der Programm-Musik eine Tokkata-Form, um das Anrollen, Beschleunigen und wieder Stillstehen einer kleinen Lokomotive im Staat Sao Paolo darzustellen. Auch Geräusche, die zu den typischen Eigenschaften einer altertümlichen Eisenbahn gehören, werden imitiert, so beispielsweise das Rumpeln, Pfeifen und das zischende Ausstoßen von Dampf.

Berenike Schröder, Juni 2003

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[expand title=“George Gershwin – Orchestersuite aus Porgy and Bess„]

Die Begegnung mit dem „King of Jazz“ der 1920er Jahre Paul Whiteman veranlasste den aus Brooklyn stammenden George Gershwin Jazzelemente mit traditionell sinfonischen Formen zu verbinden. So entstand 1924 die „Rhapsody in Blue“, die Gershwin zu weltweitem Ruhm verhelfen sollte. Dem folgte 1928 nach einer Europareise u. a. die Orchesterfantasie „An American in Paris“. Zwei Jahre vor seinem Tod (1937) komponierte Gershwin die Broadway-Oper „Porgy and Bess“. Die Oper, die nach dem Willen des Komponisten nur von Schwarzen aufgeführt werden darf, spielt im rauen Milieu armer, schwarzer Arbeiter und handelt von der tragischen Liebesgeschichte zwischen dem verkrüppelten Bettler namens Porgy und der attraktiven jungen Bess. Bess, die Geliebte des Schlägers Crown, sucht Unterschlupf und Geborgenheit bei Porgy, doch sie landet nach einem Fest auf der Insel Kittiwah wieder in den Armen Crowns. Reumütig und krank kehrt sie zu Porgy zurück, der sie vor dem gewaltbereiten Crown beschützt und gesund pflegt. Ein aufkommender Sturm, bei dem der Fischer Jake und seine Frau ums Leben kommen, beendet Crowns Spotten über Porgy. Als dieser erneut versucht, in Porgys Haus einzudringen, um sich Bess zu nähern, gelingt es Porgy, Crown zu töten. Während Porgy im Gefängnis sitzt, ist Bess dem Rauschgifthändler Sporting Life verfallen und mit ihm nach New York durchgebrannt, der ihr dort ein luxuriöses Leben versprochen hat. Porgy beschließt mit seinem Ziegenwägelchen, sich auf den Weg in die Großstadt zu machen, um Bess zurückzugewinnen.
Die bekannten Melodien und Songs wie „Summertime“, „I Got Plenty o‘ Nuttin'“, „It Ain’t Necessarily So“ oder „Oh Lawd I’m on my way“ sind in „Porgy and Bess – A Symphonic Picture“ zu einem Potpourri zusammengefasst und von Robert Russell Benett orchestriert worden. Wie auch in der Oper finden sich hier die Stilmerkmale der schwarzen Musik (z. B. Spiritual, Blues oder Ragtime) unter Verwendung von Blue Notes verbunden mit harmonischen Mitteln wieder. Auch die ungewöhnliche Orchestrierung (u. a. Banjo, 3 Saxophone, Xylophon) geht auf Gershwins Original zurück.

Philip Niggemann, Juni 2003

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